Alles inklusive Buchkritik

Alles inklusive – Leben mit einer behinderten Tochter

96 Prozent aller Kinder kommen gesund zur Welt. Meine Tochter gehört zu den anderen vier Prozent.

Auf Mareice Kaiser und ihr Buch bin ich durch ein Interview von Naomi Gregoris in der WOZ gestossen. Die Autorin nimmt uns in ihrem Buch «Alles inklusive - Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter» mit in ihr Leben und das Muttersein mit einem mehrfach behinderten Kind. In der 36. Schwangerschaftswoche bemerkt der Gynäkologe bei einem Kontrolltermin, dass das Baby in ihrem Bauch etwas klein sei und schickt sie zu weiteren Untersuchungen ins Spital. Alles unauffällig. Im Spital stellt sich heraus, dass das Baby in wenig Fruchtwasser liegt, die Geburt muss schliesslich eingeleitet werden. Nach der Geburt wird der Autorin das Baby sofort weggenommen. Eine Stunde später erfahren die Eltern von «mehreren Fehlbildungen». Die ersten vier Wochen nach der Geburt ihrer Tochter leben sie und ihr Mann im Spital bei ihrem Kind, ehe sie sie endlich mit nach Hause nehmen können.

Damit beginnt für Mareice Kaiser ein neues Leben zwischen Ängsten, Unsicherheiten und dem Gefühl allein gelassen zu werden. Die Diagnose, die die Eltern irgendwann erhalten, lautet auf einen sehr selten auftretenden vererblichen chromosomalen Defekt. Sie berichtet eindrücklich über die grossen Ängste als Eltern um ihr Kind, das nicht ernst genommen werden in Spitälern oder dumme Fragen im Bekanntenkreis. Kaiser berichtet aber auch über viele schöne Momente mit ihrer Tochter.

Die weiteren Kapitel beschreiben Eltern, die an die Grenzen ihrer Kraft stossen, bis Kaisers Mann im Spital nach der Nichtbehandlung ihrer Tochter ausrastet und die gesamte Familie mit einem polizeilichen Hausverbot belegt wird. Er landet in der psychischen Notfallaufnahme. Als Leserin spüre ich die Verzweiflung und Ohnmacht der Eltern und kann mir nicht vorstellen, wie schwierig es sein muss sich so allein zu fühlen. Die bürokratischen Hürden gleichen einem Spiessrutenlauf und Kaiser muss immer wieder Urteile anfechten und sogenannte Widersprüche verfassen, um beispielsweise die Kosten für eine Physiotherapie ihrer Tochter zurückzuerhalten. Man stelle sich nur einmal vor, wie es Menschen ergeht, welche die Behördensprache nicht verstehen und daher nicht in der Lage sind diese Bürokratie zu bewältigen, währenddessen sie den Pflegealltag eines schwerbehinderten Kindes bewältigen.

Kaiser und ihr Mann teilen sich die Care-Arbeit auf. Zu Beginn und während der ersten Jahre ihrer Tochter sind sie beide zuhause und kümmern sich um die Tochter, die viel Pflege benötigt. Kaiser erzählt vom langen steinigen Weg zurück ins Leben der Erwerbsarbeit nach drei Jahren rund um die Uhr Care-Arbeit Zuhause.

Es muss doch möglich sein, gesellschaftliche Teilhabe zu leben als Mutter eines behinderten Kindes, schreibt Mareice Kaiser nach etlichen Jobabsagen auf ihrem Blog.

Einer Studie zufolge sind 77% der Hauptpflegepersonen in Deutschland nicht erwerbstätig. Die vollumfängliche Betreuung eines behinderten Kindes wird nach wie vor als selbstverständliche Aufgabe der Mutter angesehen. Eine Folge davon ist, dass die Erwerbsquote von Müttern mit behinderten Kindern nur halb so hoch ist wie jene von Müttern nicht behinderter Kinder.

Mareice Kaiser erzählt von der endlosen Suche nach einer integrativen Kita und auch über den Wunsch nach einem zweiten Kind. Sie berichtet über die Unplanbarkeit des Lebens, über stereotypische Rollenverteilungen und bürokratischen Irrsinn. Sie geht schwierigen Gewissensfragen nach, etwa als sie sich dazu entscheidet, bei der zweiten Schwangerschaft gewisse pränatal diagnostische Untersuchungen durchzuführen. Als Leserin leide ich mit ihr mit, wenn sie die ständige Ablehnung gegen das eigene Kind miterleben muss. Doch Kaiser bleibt kämpferisch und setzt sich für ihre Tochter ein. Im letzten Kapitel beschreibt Kaiser eine Utopie, wie es sein könnte, ohne strukturelle Diskriminierungen in einer inklusiven Gesellschaft zu leben. Es ist ein sorgenloses und glückliches Leben.

«Alles inklusive» ist ein lesenswertes Buch, das mitnimmt in einen aussergewöhnlichen Familienalltag. Es regt mich zum Nachdenken an, wie wir als Gesellschaft eine inklusive Gemeinschaft sein können und was es dazu braucht. Kaiser berichtet von Erlebnissen mit anderen Kindern, die ihre Tochter so annehmen oder akzeptieren, wie sie ist. Daran sollten wir uns alle ein Beispiel nehmen. Das Buch ist ein Plädoyer für eine behindertenfreundliche, inklusive Gesellschaft, in der alle Menschen einen Platz haben.

Mareice Kaiser

«Alles Inklusive» ist 2016 erschienen und ist Mareice Kaisers erstes Buch. In der Zwischenzeit hat sie weitere Bücher geschrieben und mitverfasst. Kaiser, 1981 geboren, ist Journalistin unter anderem bei ze.tt. Ausserdem leitete sie als Chefredakteurin das Online-Magazin EDITION F. Die Idee zu diesem Buch kam ihr, nachdem sie 2014 einen Blog «Kaiserinnenreich» gegründet hatte, in welchem sie über ihr Leben mit einem behinderten Kind und ihre Erfahrungen schreibt. Den Blog gibt es noch, er wird heute von drei anderen Frauen weitergeführt. Die Themen Care-Arbeit, Elternschaft und die Vereinbarkeit mit der Erwerbsarbeit benötigen nach wie vor ein besonderes Augenmerk. Insbesondere bei Kindern, die mehr Care-Arbeit benötigen.

Laura Schwab ist Teil der Redaktion von Geschlechtergerechter.