Ein Anruf reisst Fila aus ihrem Alltag. Sie nimmt den Anruf entgegen, eine fremde Stimme spricht auf Italienisch, hastig und gehetzt: «Es tut mir leid, deine Mutter ist gestorben.» Die offizielle Todesursache lautet: Lebererkrankung. Doch die unbekannte Anruferin, die sich als Ärztin vorstellt, sagt etwas anderes: «Deine Mutter wurde ermordet.» Ihre Stimme wird drängender, als würde sie keine Zeit verlieren wollen, sie gibt Fila die Adresse eines Krankenhauses in Neapel. «Sie wollte nicht sterben», sagt sie, «Ich habe noch nie eine so um ihr Leben kämpfen sehen.» Dann wird der Anruf abrupt beendet.
So beginnt Michelle Steinbecks 2024 erschienener Roman Favorita, ein vielschichtiges Werk, das sich über 460 Seiten hinweg mit dem Mord an Frauen, mit patriarchaler Gewalt und dem Widerstand dagegen auseinandersetzt. Fila, die bei ihrer Großmutter in der Schweiz aufwuchs, hatte eine schwierige Beziehung zu ihrer Mutter. Als sie sich nach Italien aufmacht, das Land, das ihre Grossmutter einst verlassen hatte, will sie Antworten auf den ungeklärten Tod der Mutter finden. Bald schon trifft sie auf eine Gruppe von Sexarbeiterinnen, die ihre Mutter nur allzu gut kannten: Unter dem Namen Favorita führte sie die Gruppe an – als Zuhälterin und Schutzfigur. Mit der Asche ihrer Mutter in einer Urne begleitet Fila die Sexarbeiterinnen in deren Zuhause: Eine feministische Kommune inmitten einer stillgelegten Salamifabrik. Während sie immer tiefer in die Vergangenheit ihrer Mutter eintaucht, wird aus ihr ein Bestandteil revolutionärer Pläne, zu denen nicht weniger als der Sturz des Patriarchats und eine Mondrakete gehören.
Steinbeck erzählt diesen für den Schweizer Buchpreis nominierten Roman mit viel Feingefühl. Ihre Erzählweise pendelt gekonnt zwischen Wut, surrealem Witz und poetischer Leichtigkeit, ohne je die Schwere der Thematik aus den Augen zu verlieren. Es gelingt der Autorin ausserordentlich gut, die Thematik der patriarchalen Gewalt mit einer Mischung aus präziser Schärfe und Einfühlungsvermögen anzugehen und zu beleuchten.
Der Roman hält packende Wendungen bereit – etwa, als die Salamifabrik von der neofaschistischen Staatsmacht angegriffen und die Romanheldin Fila entführt sowie in eine abgelegene Villa verschleppt wird. Hier stösst sie auf die jahrzehntealte Geschichte der schönen Sisina, einem Opfer eines Femizids, der Jahrzehnte zuvor unweit der Villa geschah. An dieser Stelle verbinden sich im Roman Realität und Fiktion: Die Romanfigur der schönen Sisina lehnt sich an die real existierende Elvira Orlandini, die im Jahr 1947 ermordet wurde. Das Verbrechen wurde zu einem der grössten Medienereignisse der italienischen Nachkriegszeit stilisiert. Die Ermordung von Elvira wurde zur Sensation, ihr Konterfei zur Ikone. Doch unzählige andere Femizide geraten in Vergessenheit.
Femizid: Ein Verbrechen mit System
Steinbeck macht deutlich: Ein Femizid ist nie ein Einzelfall. Femizide sind strukturelle Gewalt und stellen den extremsten Punkt eines Kontinuums dar, das von Cat-Calling bis zu tödlicher Gewalt reicht. In der Schweiz wurde allein in den ersten zwei Monaten des Jahres 2025 jede Woche eine Frau von ihrem (Ex-)Partner oder einem männlichen Familienmitglied ermordet. Es sind feministische Kollektive wie Ni Una Menos und Stop Femizid, die diese erschütternden Zahlen ans Licht bringen und sichtbar machen, denn in offizielle Statistiken fand der Begriff «Femizid» bislang keinen Eingang. Das soll nun geändert werden: Vergangenen Monat hat das Parlament den Bundesrat damit beauftragt, eine Machbarkeitsstudie zur statistischen Erfassung von Femiziden durchzuführen.
Erinnerung als Widerstand
Beide erlitten das gleiche Schicksal, ihre Mutter und Sisina, erkennt Fila im Roman schliesslich. Der einzige Unterschied: Sisina war jünger als sie ermordet wurde. Sie blieb für immer Lustobjekt und kindliche Heilige. Filas Mutter hingegen erhielt den Stempel Hure, ihre Ermordung droht in Vergessenheit zu geraten. Um genau dies zu verhindern, führen die Sexarbeiterinnen der feministischen Kommune ein Archiv der getöteten Frauen. Das ist aber keine literarische Erfindung: Weltweit halten feministische Kollektive Mahnmachen, um an Opfer von Femiziden zu erinnern. Was sie und die Figuren in Steinbecks Roman verbindet, sind nicht nur die gemeinsame Trauer und die Wut. Es ist der Kampf gegen ein System, das diese Morde ermöglicht – und die Entschlossenheit, dieses System zu zerschlagen.
Favorita
ist wütend und zärtlich, poetisch und erschreckend real. Michelle Steinbecks Roman ist gleichzeitig eine kritische Gesellschaftsanalyse, ein spannender Thriller und vor allem eine kraftvolle Abrechnung mit dem Patriarchat. Ein Buch, das berührt, mitreisst und lange nachhallt.
Lynn Kohli ist Autorin bei Geschlechtergerechter.
17.4.2025