Christina Caprez Mutterschaft – Interview

Familie neu gedacht

Was bedeutet Familie heute? Christina Caprez, Soziologin und Autorin, erzählt von ihrem eigenen Weg und der gesellschaftlichen Akzeptanz alternativer Familienmodelle.

Christina Caprez ist Soziologin und Autorin des Buchs «Familienbande. 15 Porträts». Ich habe mich mit ihr getroffen, um über Familienvorstellungen und Elternschaft zu sprechen. Entstanden ist ein Interview, das anregt, sich selbst über das Thema Gedanken zu machen.

Dein 2012 erschienenes Buch «Familienbande» ist vor über 10 Jahren erschienen. Inwiefern ist es heute noch immer aktuell?

Das Buch ist zwar 12 Jahre alt, aber in seiner Vielfalt ist es immer noch aktuell, und ich erhalte bis heute Reaktionen von Lesenden. Allerdings hat sich seither viel verändert: Andere Familienformen als die heterosexuelle Kleinfamilie sind selbstverständlicher geworden, die Ehe für alle ermöglicht es auch gleichgeschlechtlichen Paaren, ein Kind zu adoptieren oder mittels Samenspende zu zeugen. Regenbogenfamilien sind heute viel besser akzeptiert als 2012. Damals hiess es manchmal, Kinder homosexueller Eltern würden gemobbt, und die Eltern seien egoistisch, wenn sie ihre Kinder dieser Situation aussetzten. Auch die Erziehungsfähigkeit schwuler Männer wurde teilweise in Frage gestellt. Mittlerweile sind Regenbogenfamilien zwar immer noch «exotisch», aber sie stehen nicht mehr so im öffentlichen Fokus. Heute entzündet sich die Kritik mehr am Thema trans Kinder und Jugendliche. Das erlebe ich derzeit sehr stark – nicht nur als Zeitungsleserin, sondern auch, weil ich mich im Rahmen eines neuen Buchprojekts mit queeren Kindern und Jugendlichen befasse.

Wieso hast du dieses Buch damals geschrieben? Was war deine Motivation dahinter?

Mich haben Lebensgeschichten immer schon fasziniert, und ich las gerne Porträtbücher, weil sie manchmal besser als Ratgeber Orientierung für das eigene Leben bieten können. Zudem war ich damals Mitte 30 und hatte einen Kinderwunsch. Für mich kam aber das konventionelle Modell – also die typische Kernfamilie aus Vater, Mutter, Kind – nicht in Frage. Ich war auf der Suche nach Vorbildern. Weder in den Schweizer Buchläden noch in den Medien waren damals verschiedene Elternformen Thema. Und so kam es, dass ich dieses Buch schrieb. Mich interessierte die Frage, welche alternativen Möglichkeiten es gibt, Kinder grosszuziehen. Ich wollte wissen, wie sich frau von traditionellen Normen befreien kann.

Was für eine Form der Elternschaft lebst du heute?

Ich lebe heute mit meiner Tochter und ihren zwei Papas in einer grossen WG. Wir leben in einer Co-Elternschaft; wir teilen uns also die Verantwortung seit der Geburt zu gleichen Teilen zu dritt. Die beiden Männer sind ein Paar, ich bin mit ihnen nicht in einer romantischen Beziehung. In der WG leben auch noch andere Kinder und Erwachsene, so hat meine Tochter eine Art Geschwister in ihrem Alltag und auch weitere erwachsene Bezugspersonen. Jeden Abend kocht jemand für die ganze WG. Das ist sehr praktisch: Man muss nicht jeden Tag kochen und einkaufen, und das Kochen verleidet einem auch nicht. Ich koche einmal die Woche für 10 Menschen, und mittags wechseln sich die Eltern untereinander ab. So eine Wohnform bedeutet aber auch viel Kommunikation und Beziehungsarbeit. Das kann dazu führen, dass man ausserhalb der WG weniger Zeit oder Energie für weitere Menschen hat.

Wie sieht denn dein Verständnis von Familie aus?

Familie bedeutet für mich eine Konstellation, in der Erwachsene Verantwortung für Kinder übernehmen und sie beim Grosswerden begleiten. Ein Kind zu erziehen ist wohl die grösste Verantwortung, die man haben kann. Und wer allein oder zu zweit Elternpflichten übernimmt, kann schnell überfordert sein. Besonders als Mutter stellte ich mir die Baby-Zeit sehr einsam und beengend vor. Mit unserer Familienkonstellation fühlte ich mich die erste Zeit mit dem Kind nie allein und konnte mir auch mehr Freiheit nehmen – Zeit für mich, meinen Beruf, Freundschaften und die Liebe. Das geniesse ich bis heute. Ich bin gerade aus einer Schreibretraite zurück, meine Tochter war währenddessen mit ihren beiden Vätern in den Ferien. Ich vermisse sie jeweils schon, sie mich aber weniger, da sie ja immer noch mit zwei Eltern unterwegs ist.

Was ist an «deiner» Familienform speziell oder anders? Und was genau nicht?

Für mich ist nichts speziell daran, weil ich ja jeden so Tag lebe. Wir benötigen sicher mehr Absprachen, damit alle auf dem Laufenden sind. Die Aufgaben als Eltern sind aber genau die gleichen, nur dass wir halt drei statt nur zwei Eltern sind. Gut finde ich, dass ich die Elternschaft von meiner Liebesbeziehung trennen kann. Auf Grund meiner weiblichen Sozialisation übernehme ich viel Verantwortung in Liebesbeziehungen, obwohl ich das manchmal gar nicht will. In einer Co-Elternschaft ist dieses Verpflichtungsgefühl weniger schnell da, und ich kann den Mental Load besser abgeben. Unsere Familienform ist in gewissem Mass vergleichbar mit Patchworkfamilien. Nur, dass bei uns keine offenen Rechnungen der vorherigen Liebesbeziehung mitschwirren, da unsere Co-Elternschaft von Anfang an so geplant war.

Wie kann man eine Co-Elternschaft planen?

Ich habe die beiden Väter im Bekanntenkreis kennengelernt und als grossartige potenzielle Väter wahrgenommen. Wir haben im Vorfeld viel über unsere Vorstellungen gesprochen; wo wir herkommen, warum wir ein Kind wollen, wie wir uns ein Leben mit Kind vorstellen, wie wir mit Konflikten umgehen und wie wir diese Beziehung für die nächsten 20 Jahre tragen können. Die beiden Väter führen eine Liebesbeziehung, die nicht symbiotisch ist. So habe ich mich nie wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt. Wenn zwei von uns unterschiedlicher Meinung sind, vermittelt der dritte. Meine Erfahrung ist, dass es in Zweierbeziehungen eher zu Polarisierungen kommt.

Welche Reaktionen erhaltet ihr als Familie von aussen?

Persönlich erlebe ich teilweise eine Idealisierung meines Familienkonzeptes. Vielen imponiert, dass ich durch meine Elternschaft mehr individuelle Zeit für mich habe und das Kind mehrere Bezugspersonen hat. Auch meine Tochter hat in der Kita und im Kindergarten eher positive Reaktionen erhalten. Manche Kinder sagten, sie hätten auch gern zwei Papis. Jetzt in der Primarschule gibt es teilweise Kinder, die sagen, ein Kind könne nicht zwei Väter haben. Das ist schwierig für meine Tochter, weil es ihr die Lebensrealität abspricht. Manchmal hat sie darum keine Lust, anderen von ihrer Familienform zu erzählen. Meistens ist unsere Familienform aber überhaupt kein Thema, weil sie für meine Tochter und unser ganzes Umfeld selbstverständlich ist.

Was bedeutet es für dich, Familienformen neu zu denken?

Zentral für diese Diskussion ist der Wohnraum. Für solche Familienformen braucht man bezahlbare und genügend grosse Wohnungen. Unser Haus bietet auf drei Stockwerken Platz für bis zu zwölf Menschen, wir haben einen grossen Gemeinschaftsraum und einen Garten. Diese Art von Wohnraum gibt es heute erst selten, beispielsweise in Genossenschaften mit Clusterwohnungen. Nebst Wohnraum braucht es auch mehr Vorbilder. Verschiedene Lebensmodelle zu sehen macht Mut, etwas selbst auszuprobieren.

Was braucht es, um die Diversität und die Vielfältigkeit der verschiedenen Familienvorstellungen auch effektiv ausleben zu können?

Heute ist der dritte Elternteil rechtlich immer noch nicht abgesichert, das Gesetz sieht maximal zwei Elternteile vor. Wenn die rechtlichen Eltern sterben würden, hätten rein rechtlich die Grosseltern mehr zu sagen als der zweite Papa. Auch gibt es keinen Schutz, wenn der dritte Elternteil die Konstellation verlässt, da ihn oder sie nichts Rechtliches verpflichtet. Momentan gibt es politische Bestrebungen, Co-Elternschaft rechtlich anzuerkennen. Bis zur Umsetzung wird meine Tochter aber vermutlich erwachsen sein.

Das neue Buch von Christina Caprez, «Queer Kids. 15 Porträts», erscheint im November 2024 im Limmat Verlag.

Louise Alberti ist Projektmitarbeiterin bei Geschlechtergerechter und Teil der Redaktion.

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