Die Schweiz tickt ja in Familienfragen anders als der Rest der Welt, unsere Stundenpläne sind immer noch auf Hausfrauen ausgerichtet, was muss man denn jetzt wirklich ändern bei uns?
Den Mindset. Die eigene Einstellung - damit fängt alles andere an. Wenn genügend Menschen eine Rollenverteilung hinterfragen, die noch aus Zeiten der Industrialisierung stammt, und ein Mütterbild, das zumindest in Europa stark von den Vorstellungen von Jean Jacques Rousseau geprägt wurde - dann wird sich etwas ändern. Immer mehr Menschen werden erkennen, dass es keinen Sinn macht, dass Müttern (und auch Vätern) heute zwar alle Möglichkeiten offenstehen, die Kinderbetreuung aber doch bitte einfach so nebenbei gemacht werden soll. Dabei sind es zwei Vollzeitjobs, von der emotionalen Arbeit mal abgesehen.
Hat es im Kopf einmal Klick gemacht, folgen die strukturellen Veränderungen automatisch: wir werden mehr bezahlbare Kinderbetreuung fordern, Care Work in der Gesellschaft stärker wertschätzen oder sogar entlöhnen, mehr Frauen in Entscheidungspositionen haben, und somit hoffentlich irgendwann die Balance wieder herstellen.
Es ist noch ein weiter Weg. Aber sich selber zu hinterfragen ist der erste Schritt.
Gibt es Unterschiede, ob eine Familie auf dem Land lebt oder in der Stadt?
Die auf dem Land haben die bessere Luft und weniger szenige Restaurants (lacht). Natürlich ist es in der Schweiz immer noch so, dass es Unterschiede gibt bezüglich urbanen und ländlichen Gegenden. Während sich in der Stadt die Stay-at-Home-Mom schon fast entschuldigen muss für ihre Entscheidung, ist es auf dem Land umgekehrt.
Unser Ziel: alle klopfen sich auf die Schultern und erkennen an, was die andere leistet. #Sisterhood ist ein unglaublich abgelutschtes Wort, und auch Empowerment kann ich langsam nicht mehr hören - aber ich glaube sehr daran, dass wir uns alle gegenseitig unterstützen sollten.
Was darf von einem werdenden Vater heute erwartet werden?
Die Frage ist eher: was erwartet er von sich? Und welche Erwartungen haben die werdenden Eltern aneinander? Nicht nur Mütter, auch Väter erleben einen starken Rollenzwang als “Ernährer”. Wir erleben es immer wieder, dass Paare die wirklich wichtigen Fragen vor der Geburt gar nicht klären, weil sie denken, dass ergäbe sich dann schon. Was sich dann wirklich abspielt, ist ein schnelles Abdriften in sehr traditionelle Rollen, und oft sind beide Elternteile sehr unglücklich dabei - haben aber gleichzeitig das Gefühl, “das ja zu müssen, und es ginge ja nicht anders”. Doch, geht es, sagen wir.
Sehen Sie Chancen mit den neuen Arbeitsformen (z.B. Home-Office), welche?
Da gibt es absolut Chancen - zum Beispiel keine langen Arbeitswege und somit ein Zeitgewinn. Oder zum Beispiel die Möglichkeit, am Mittag zu Hause zu sein, wenn Schüler zum Zmittag kommen.
Zu denken, man könne aber zum Beispiel mit Kindern zu Hause gleichzeitig arbeiten, so wie das ab und zu in der Werbung zu sehen ist, ist natürlich ein absoluter Trugschluss. Kinderbetreuung und Erwerbsarbeit sind zwei verschiedene Jobs, die man nicht gleichzeitig erledigen kann, Punkt. Ich arbeite seit 10 Jahren mehrheitlich von zu Hause aus und weiss, wovon ich spreche.
Die neuen Arbeitsformen - New Work - sind definitiv familienfreundlicher. Wir arbeiten bei AWM remote: orts- und zeitunabhängig, unser Team arbeitet oft asynchron. Das heisst, ich kann zwei Stunden später Feedback geben, es gibt keine terminierten Sitzungen, sondern spezifische Calls, wir tauschen uns über eine Kommunikationsplattform aus, unser virtuelles Büro. Unsere ganze Organisation haben wir in einer cloudbasierten App - da stört es auch nicht, dass wir uns in vier verschiedenen Zeitzonen aufhalten. Alle in unserem Team haben Kinder, alle arbeiten in Teilzeit.
Was raten Sie einer jungen Frau, die 2022 eine Familie gründen möchte?
Unsere Inhalte zu konsumieren (zwinkert), sich nicht von Instagram-Schweinwelten beeinflussen zu lassen und das Wichtigste: mit ihren Partner*innen über gegenseitige Erwartungen zu sprechen und auch die eigenen zu hinterfragen.
Wovon müssen wir uns in Zukunft befreien?
Von dem Zwang, dass «das man das halt so macht».