Zeichenfläche 23 12x 100 Interview

Mutter werden, Mutter sein

Kinder mit Behinderungen sind Kinder. Somit sind Eltern von Kindern mit Behinderungen auch Eltern.

Zugegeben, das klingt jetzt nach einer simplen Feststellung, nach einem Lead, der eine allgemeine Wahrheit ausdrückt. Vielleicht auch nach Inhalt, zu dem kein ganzer Blogartikel notwendig ist? Nun, ganz so offensichtlich ist diese Feststellung im gesellschaftlichen Diskurs zum Thema Elternschaft von Kindern mit Behinderungen allerdings nicht. Die Aussage «Kinder mit Behinderungen sind Kinder», ist die Quintessenz eines Interviews, das ich mit Martina geführt habe und zeitgleich auch ihre Forderung nach Veränderung in der Betrachtungsweise einer – ihrer – Lebensrealität.

Vor 30 Jahren wurde Martina Mutter eines Kindes mit Behinderungen. Genauer gesagt, hat die Autorin sie zur Mutter gemacht. Den Stempel «mit Behinderungen» gab es kostenlos obendrauf. Bevor Martina Mutter wurde, hatte sie nie das Bedürfnis, über Kinder nachzudenken, sie war dem Leben mit Kindern aber auch nicht abgeneigt. Sie hat sich in der Gleichstellungsbewegung stark gemacht, viel über das Leben nachgedacht und die Welt bereist. Ihre erste Mutterschaft lenkte die Reise in eine leicht andere Richtung. Von ihren Erlebnissen erzählt sie im nachfolgenden Interview.

Vom Familienwerden – Ein Gespräch zwischen Mutter und Tochter

Als du dein erstes Kind bekommen hast, hattest du da eine konkrete Vorstellung vom Muttersein?


Ich habe meine Kinder nicht geplant. Du warst eine Frühgeburt und das war für mich traumatisch, denn ich wurde nicht nur plötzlich Mutter, sondern auch viel zu früh. Hinzu kam dein gesundheitlicher Zustand. Ich wusste lange nicht, ob du überlebst. Vom ersten Moment an wollte ich für dich da sein und fühlte mich eingebunden, doch zugleich verspürte ich den Druck, stets funktionieren zu müssen.

Wie bist du mit meinen Diagnosen umgegangen?

Nun, ich wusste zu Beginn nicht, dass du mit einer Behinderung leben würdest. Man hat mir deine Diagnose bewusst verschwiegen mit der Begründung, dass ich das wohl nicht verkraftet hätte. Erst als deine Schwester geboren wurde und dich in vielen «Meilensteinen» überholte, wurde ich stutzig. Ich habe mich dann auf die Suche nach Antworten gemacht und die Diagnosen von deinen damaligen Ärzten erhalten.

Hattest du nach Erhalt der Diagnosen bestimmte Vorstellungen von der Mutterschaft von einem Kind mit Behinderungen?

Nein, überhaupt nicht. Ich kannte natürlich Menschen mit Behinderungen, aber habe mich nie im Detail mit dem Thema beschäftigt. Alles, was ich mir vorgestellt hätte, wäre wohl aufgrund mangelnder Informationen falsch gewesen. Ich merkte aber schnell, dass Selbstbestimmung nicht für Menschen mit Behinderungen vorgesehen war. Ich erkannte schnell behindernde Strukturen, die dich von sich abhängig machen wollten. Jeder Mensch sollte unabhängig von seinem Grad an Selbstständigkeit selbstbestimmt leben. Auch das war und ist nicht vorgesehen. Deswegen war meine Erziehung auch auf deine Selbstständigkeit ausgelehnt. Ich wollte dir damit Chancen ermöglichen.


Früher wurde mir oft gesagt, dass du wegen meiner Geburt und den damit verbundenen Erlebnissen traurig gewesen bist. Wie hast du dich wirklich gefühlt?

Spannend, das wurde ich nie direkt gefragt. Es ist schon sehr speziell, dass man dich darauf anspricht. Trauer finde ich ein schwieriges Wort, das für mich nicht stimmig ist. Ich habe mich und unsere Situation nie bemitleidet. In gewissen Momenten haben mich die Herausforderungen, vor die du gestellt wurdest, traurig gemacht. Ich sage bewusst «du», weil ich dir bei vielen dieser Dinge nicht helfen konnte.

Ich höre es immer wieder: Ein Kind mit Behinderungen verändert die Perspektive auf das Leben. Wie stehst du dazu?

Das glaube ich nicht und das hat vielleicht mit meiner Vergangenheit zu tun. Als Flüchtlingskind habe ich schon in jungen Jahren viel durchgemacht und war vor deiner Geburt viel unterwegs. Ich habe Hunger gesehen, ich habe den Tod gesehen. Daher denke ich, dass das eine sehr individuelle Perspektive ist.


Hat sich deine Perspektive auf Behinderungen in 30 Jahren Mutterschaft verändert?

Anfangs habe ich überall auf der Strasse Menschen mit Behinderungen wahrgenommen. Das ist heute nicht mehr so. Heute hat mein Bild von Behinderungen mehr Tiefe, da ich sie mit dir in der Rolle als Mutter täglich erlebe.


Ich habe noch eine Schwester. Gab es bezogen auf deine Rolle als Mutter Unterschiede in der Erziehungsarbeit?

Nein. Aufgrund der strukturellen Rahmenbedingungen und deiner Behinderungen standen wir vor anderen Herausforderungen. Ich habe meine Aufgabe immer darin gesehen, meine Kinder zu befähigen und ihnen den für sie passenden Rahmen zu geben. Vergleiche sind für mich im Allgemeinen nicht zielführend. Meine Haltung war und ist: Kinder mit Behinderungen sind Kinder. Sie werden allerdings oft nicht so behandelt und in vielen Kontexten objektiviert. Wichtig in der Erziehungsarbeit finde ich, beim Individuum zu bleiben.


Du hast mir gesagt, dass die Erfahrungsberichte und Perspektive anderer Eltern dir nicht gross geholfen haben, weil es schlussendlich den eigenen Alltag zu bewältigen gilt. Was kann deiner Meinung nach unterstützen?

Es braucht ein Auffangsystem, da es unterschiedliche Lebensrealitäten mit Kindern mit Behinderungen gibt. Es wäre auch an der Zeit, dass die verschiedenen Unterstützungsangebote lokal verfügbar sind. Viele Familien mit Kindern mit Behinderungen haben weder zeitliche noch finanzielle Ressourcen, weite Wege für teure Angebote auf sich zu nehmen. Behinderung bedeutet oft auch Armut für das Individuum und die betreuenden Personen.

Der Fokus liegt mir im heutigen Diskurs immer noch zu stark auf den Eltern. Zu deren Perspektive werden viele Bücher geschrieben. Mir würde es gefallen, wenn mehr Kinder mit Behinderungen die Möglichkeiten hätten, ihre Perspektive zu teilen, gerade in Bezug zur Beziehung zu und mit ihrer Elternschaft. Das hätte mir als Mutter auch geholfen.


Ich bedanke mich bei dir herzlich für das offene Gespräch und hoffe, wir können zusammen eine gemeinsame Realität schaffen, die durch die unterschiedlichen Perspektiven geformt wird.

Saphir

Saphir Ben Dakon ist Teil der Redaktion von Geschlechtergerechter. Stolze Besitzerin von über 1500 Büchern, setzt sich für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen ein und ist in ihrer Freizeit Vollzeit-Tante von drei Mädchen.