Group 3922 Prostitution – Interview

Prostituierte als Zeuginnen eines Unrechtssystems

Vor fünf Jahren hat Aline Wüst das wegweisende Buch «Piff, Paff, Puff. Prostitution in der Schweiz» geschrieben. Was ist seither passiert? Irène Meier hat Aline Wüst zum Gespräch getroffen.

Das Buch «Piff, Paff, Puff. Prostitution in der Schweiz» dokumentiert eine zwei Jahre dauernde Recherche im sogenannten Rotlichtmilieu der Schweiz und über 100 Gespräche mit Frauen in der Prostitution. Es stiess auf breite Medienresonanz. Über das eindrückliche und verständlich geschriebene Buch wurde mit zahlreichen Beiträgen auf allen Kanälen berichtet.

Aline, was hat dein Buch bewirkt?

Ich wollte, dass die Frauen aus der Prostitution, die mir mutig ihre Geschichte erzählt haben, auch gehört werden. Sie selbst können ihre Stimme häufig aus verschiedenen Gründen nicht laut erheben. Die Scham ist gross, die Angst noch grösser und ihre Situation zehrt an ihrer Kraft und ihrem Selbstvertrauen. Die über 100 Frauen, mit denen ich ins Gespräch kommen durfte, sind Zeuginnen. Sie sind es, die wissen, was es heisst, eine Frau in der Prostitution zu sein. Sie müssen wahr- und ernstgenommen werden. Ich denke, die grosse Aufmerksamkeit, die das Buch vor fünf Jahren erhielt, hat zu dieser Wahrnehmung beigetragen und wenn ich es optimistisch betrachte, hat mein Buch vielleicht auch einen Anstoss für Veränderungen geben können.

«Heute ist es nicht mehr so einfach, Prostitution zu verharmlosen, wegzuschauen oder sie als Normalität zu betrachten.»

Aline Wüst

Was hat sich in den letzten fünf Jahren zum Positiven verändert?

Wir stehen an einem deutlich anderen Punkt als damals. Die Diskussion über Prostitution in der Schweiz ist vielstimmiger geworden und es ist nicht mehr so einfach, Prostitution als ältestes Gewerbe der Welt zu verharmlosen oder wegzuschauen oder sie als Normalität zu betrachten. Gerade in letzter Zeit gab es einige Medienbeiträge von Journalist:innen, die aufmerksamer geworden sind, mehr hinterfragen und Missstände aufzeigen. Und es sind auch politische Vorstösse zu erwarten, die Veränderungen bewirken wollen.

Was ist nicht gelungen?

Trotz der erfreulichen Bewegung in der öffentlichen Debatte blieb bei mir ein grosser Schmerz bestehen. Die Frauen, die ich im Rahmen meiner Recherche kennenlernen durfte und zu denen ich noch Kontakt habe, prostituieren sich alle nach wie vor, obwohl sie eigentlich aussteigen wollen. Sie sagen, sie möchten ein anderes Leben führen. Das zu sehen ist bitter und zeigt auch, was für ein komplexes Unterfangen ein gelingender Ausstieg ist und dass er viel Unterstützung braucht. Einige Protagonistinnen habe ich aus den Augen verloren. Ich weiss nicht, wo sie sind oder ob sie überhaupt noch leben.

Was hatte das Buch für dich persönlich für Auswirkungen?

Nachdem die erste Aufmerksamkeitswelle vorüber war, war ich ernüchtert, auch etwas frustriert, weil so viele Zeuginnenaussagen und Fakten auf dem Tisch lagen und doch nichts passierte. Das alte Narrativ war doch stärker.

Dennoch hatte mich das Thema nicht mehr losgelassen. Wenn man einmal so viel gesehen hat und persönliche Beziehungen zu Betroffenen entstanden sind, kann frau nicht mehr so tun, als wäre alles in Ordnung. Es gab auch nach der Publikation des Buches noch einige Frauen aus der Prostitution, die mit mir reden, ihre Geschichte teilen wollten, obwohl sie grosse Angst hatten.

Ich wollte etwas Konkretes, Positives bewirken und arbeite deshalb seit 2023 beim Heartwings Verein in der Kommunikation. Es war für mich ein Hoffnungsschimmer, dass es eine Organisation gibt, die Ausstiegsprogramme für Frauen aus der Prostitution aufbaute. Und was für ein Geschenk ist es zu sehen, wenn sich eine ehemalige Prostituierte ein neues Leben aufbauen und ihr Potenzial entfalten kann.

«Die Ausbeutung ist vielschichtig und passiert auf verschiedenen Ebenen.»

Aline Wüst

Wieso bezeichnest du Prostitution als Ausbeutung?

Es ist zentral, das bisherige Narrativ über die Prostitution zu hinterfragen und zu verändern. Dazu gehört, immer wieder zu benennen, was Frauen in der Prostitution erleben und weshalb das nicht als normale Arbeit, sondern als Ausbeutung bezeichnet werden muss. Die Ausbeutung ist vielschichtig und passiert auf verschiedenen Ebenen. Häufig führen ökonomische Not oder sexuelle und/oder psychische Gewalterfahrungen Frauen in die Prostitution. Dabei werden nicht nur ihre Körper benutzt, sondern oft auch ihre Einnahmen abgeschöpft. Sie erleben häufig Gewalt und ihre Gesundheit wird beeinträchtigt. Durch ein solch ausbeuterisches System verlieren sie an Selbstwert, was es für sie noch schwieriger macht, für sich einzustehen, zu sprechen oder zu handeln. So bleibt das System der Ausbeutung intakt und unsere Gesellschaft hält das alles für normal.

Was ist zu tun?

Zunächst braucht es noch viele weitere Stimmen von ganz unterschiedlichen Seiten, die verändern wollen, wie über Prostitution gedacht und diskutiert wird. Ausserdem müssen Frauen, die aus der Prostitution aussteigen wollen, dringend schnellere und bessere Hilfe bekommen.

Ebenso wichtig ist es zu benennen, wer in diesem Unrechtssystem ausbeutet, wer davon profitiert: Männer, die für Sex bezahlen und alle, die sich an diesen Zahlungen bereichern. Freier und weitere Profiteure sind in der aktuellen Situation viel zu stark geschützt und verursachen ausserdem unkritisiert grosse Schäden und Folgekosten – nicht nur bei den Prostituierten, auch bei der Polizei, der Strafverfolgung und in der Sozialarbeit. Das muss sich ändern.

Auch die Ausbildung für Sozialarbeit hängt noch am alten Narrativ. Es ist höchste Zeit, dass auch die Fachhochschulen für Sozialarbeit ihre Lehrgänge zum Thema Prostitution diverser gestalten. Eine systemische Betrachtung schliesst die Aussagen von Zeuginnen, die schädlichen Auswirkungen und Folgekosten für die Gesellschaft mit ein und benennt Prostitution nicht als Arbeit wie jede andere.

Doch auch ausserhalb der Schweiz muss etwas getan werden: Die Schweiz engagiert sich im Rahmen ihres Kohäsionsbeitrages nach der EU-Osterweiterung mit viel Geld in den osteuropäischen Ländern. Dazu gehören auch Rumänien und Bulgarien – beides bedeutende Herkunftsregionen von Prostituierten in der Schweiz. Es wäre das Wichtigste, im Sinne der Prävention und dem Aufbau von anderen Perspektiven, vermehrt in Projekte für junge Frauen vor Ort zu investieren und auch die Länder selbst dafür zu motivieren.

Was ist dir zum Schluss noch wichtig zu sagen?

Frauen in der Prostitution wurden so lange nicht gehört oder mundtot gemacht. Nun aber erleben wir, was einzelne wenige betroffene Frauen damit bewirkten, dass sie entgegen allen Widerständen ihre Wahrheit über Prostitution ausgesprochen haben: Immer mehr Frauen beginnen nun zu sprechen. Sie berichten vielstimmig und vielschichtig - und was sie erzählen, ist erschütternd. Und doch ermutigt jede, die spricht, weitere Zeuginnen ebenfalls zu reden. Es ist eine enorme Kraft, die sich da gerade entfaltet.

Und ich bin davon überzeugt: Diese Frauen werden die Welt verändern. Für sich selbst und für ihre Töchter, für mich und meine Töchter und für all die nachfolgenden Generationen.

Irène Meier führte das Gespräch mit Aline Wüst am 4. Juni 2025.

07.08.2025

Piff paff puff

Das Buch «Piff, Paff, Puff. Prostitution in der Schweiz» von Aline Wüst erschien 2020 im Echtzeit Veralg. Es dokumentiert eine zwei Jahre dauernde Recherche im sogenannten Rotlichtmilieu der Schweiz und über 100 Gespräche mit Frauen in der Prostitution. Über das eindrückliche und verständlich geschriebene Buch wurde mit zahlreichen Beiträgen auf allen Kanälen berichtet.

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Die Seiten wechseln 1

Mehr zum Thema schrieb Irène Meier in ihrem Blogartikel «Die Seiten Wechlseln». Die Autorin geht der Frage auf den Grund, warum in der Prostitution die Dienstleister:innen viel stärker stigmatisiert werden als die Freier und fordert, dass diese Stigma die Seiten wechseln muss.

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