Wieso bezeichnest du Prostitution als Ausbeutung?
Es ist zentral, das bisherige Narrativ über die Prostitution zu hinterfragen und zu verändern. Dazu gehört, immer wieder zu benennen, was Frauen in der Prostitution erleben und weshalb das nicht als normale Arbeit, sondern als Ausbeutung bezeichnet werden muss. Die Ausbeutung ist vielschichtig und passiert auf verschiedenen Ebenen. Häufig führen ökonomische Not oder sexuelle und/oder psychische Gewalterfahrungen Frauen in die Prostitution. Dabei werden nicht nur ihre Körper benutzt, sondern oft auch ihre Einnahmen abgeschöpft. Sie erleben häufig Gewalt und ihre Gesundheit wird beeinträchtigt. Durch ein solch ausbeuterisches System verlieren sie an Selbstwert, was es für sie noch schwieriger macht, für sich einzustehen, zu sprechen oder zu handeln. So bleibt das System der Ausbeutung intakt und unsere Gesellschaft hält das alles für normal.
Was ist zu tun?
Zunächst braucht es noch viele weitere Stimmen von ganz unterschiedlichen Seiten, die verändern wollen, wie über Prostitution gedacht und diskutiert wird. Ausserdem müssen Frauen, die aus der Prostitution aussteigen wollen, dringend schnellere und bessere Hilfe bekommen.
Ebenso wichtig ist es zu benennen, wer in diesem Unrechtssystem ausbeutet, wer davon profitiert: Männer, die für Sex bezahlen und alle, die sich an diesen Zahlungen bereichern. Freier und weitere Profiteure sind in der aktuellen Situation viel zu stark geschützt und verursachen ausserdem unkritisiert grosse Schäden und Folgekosten – nicht nur bei den Prostituierten, auch bei der Polizei, der Strafverfolgung und in der Sozialarbeit. Das muss sich ändern.
Auch die Ausbildung für Sozialarbeit hängt noch am alten Narrativ. Es ist höchste Zeit, dass auch die Fachhochschulen für Sozialarbeit ihre Lehrgänge zum Thema Prostitution diverser gestalten. Eine systemische Betrachtung schliesst die Aussagen von Zeuginnen, die schädlichen Auswirkungen und Folgekosten für die Gesellschaft mit ein und benennt Prostitution nicht als Arbeit wie jede andere.
Doch auch ausserhalb der Schweiz muss etwas getan werden: Die Schweiz engagiert sich im Rahmen ihres Kohäsionsbeitrages nach der EU-Osterweiterung mit viel Geld in den osteuropäischen Ländern. Dazu gehören auch Rumänien und Bulgarien – beides bedeutende Herkunftsregionen von Prostituierten in der Schweiz. Es wäre das Wichtigste, im Sinne der Prävention und dem Aufbau von anderen Perspektiven, vermehrt in Projekte für junge Frauen vor Ort zu investieren und auch die Länder selbst dafür zu motivieren.
Was ist dir zum Schluss noch wichtig zu sagen?
Frauen in der Prostitution wurden so lange nicht gehört oder mundtot gemacht. Nun aber erleben wir, was einzelne wenige betroffene Frauen damit bewirkten, dass sie entgegen allen Widerständen ihre Wahrheit über Prostitution ausgesprochen haben: Immer mehr Frauen beginnen nun zu sprechen. Sie berichten vielstimmig und vielschichtig - und was sie erzählen, ist erschütternd. Und doch ermutigt jede, die spricht, weitere Zeuginnen ebenfalls zu reden. Es ist eine enorme Kraft, die sich da gerade entfaltet.
Und ich bin davon überzeugt: Diese Frauen werden die Welt verändern. Für sich selbst und für ihre Töchter, für mich und meine Töchter und für all die nachfolgenden Generationen.
Irène Meier führte das Gespräch mit Aline Wüst am 4. Juni 2025.